Haben oder Sehsucht haben?
Ein Auszug aus „Zwischen den Stühlen“ von Dr. Rainer Stuhlmann


„Rückt einem, wenn man im ‚Heiligen Land‘ lebt, die Geschichte von der Geburt Jesu näher‘?“
Ausgehend von dieser Frage, die ihm in einem Weihnachtsbrief eines Freundes gestellt wurde, schreibt Rainer Stuhlmann:

„Gar nicht. Ich bin gerne in Bethlehem. Aber im Traume fiele mir nicht ein, dorthin an Weihnachten zu gehen, so wenig wie in der Karwoche oder an Ostern in Jerusalem.“ (…) Das Heilige (…) lässt auf sich warten. Das ist es, was wir vor allem in den Wochen vor Weihnachten versuchen einzuüben. An den Kindern können wir es beobachten. Was noch nicht da ist, erweist heute schon seine Macht. Das kommende Fest erfüllt jetzt schon die, die es erwarten. Das Kommende wirft seine Schatten voraus. Es zieht Menschen in seinen Bann, bestimmt ihre Tagesordnung. In der Adventszeit können wir einüben, was es heißt zu hoffen und zu warten auf das, was noch nicht greifbar und sichtbar ist.

Erfahrbar ist anderes. Zum Beispiel die Sehnsucht. Oft ist sie kraft- und machtvoller als ihre Erfüllung. Zum Beispiel die Vorfreude. Oft ist sie größer als die Freude selbst. Vorfreude und Sehnsucht bestimmen mich, wenn ich an Gott glaube. Sie sind erfahrbare Gestalten der Hoffnung.

In Jerusalem verbindet mich das mit den Juden, die an der Klagemauer beten. Sie ist eine Ruine, ein Stück zerstörtes Heiligtum. Hier wächst die Sehnsucht nach dem Heilen und Vollkommenen. Es verbindet mich mit Muslimen, die im Felsendom beten. Hier ist für sie Mohammed in den Himmel gestiegen, hat sich entzogen und damit Sehnsucht gestiftet nach dem Unverfügbaren. Es verbindet mich mit Christen, die am Grab Jesu der biblischen Botschaft trauen: „Den ihr sucht, der ist nicht hier.“

Wir erwarten ihn. Anders als die Fundamentalisten aller Religionen, die meinen über ihn verfügen zu können.“

aus: Rainer Stuhlmann: Zwischen den Stühlen, Alltagsnotizen eines Christen in Israel und Palästina, 2015, S. 39-41